Hallo Nördlingen. Darf ich mich vorstellen?

Ich bin deine Stadtschreiberin.

Stephanie Quitterer vor türkisfarbener Wand

Jetzt schaust du.

Stadtschreiberin? Was ist das, was soll das sein?

Ja, früher, du erinnerst dich dunkel, hattest du schon mal Stadtschreiber. Damals. Ungefähr zur Zeit der Hexenverfolgung. Damals waren es gelehrte Herren, die deine Chroniken schrieben – inzwischen (es ist viel passiert) kann, du siehst es, auf so einem Posten auch ein weibliches Wesen sitzen. Gelehrt bin ich zwar auch, aber das wäre nicht das erste Adjektiv, das mir zu mir einfallen würde. „Neugierig“ wäre da schon viel früher zu nennen, oder „offen“ und „abenteuerliebend“. Diese Adjektive sind es wohl eher, die mich in deine Arme getrieben haben, als du von deinem Daniel herunter und in alle Lande verkündet hast, du hättest mal wieder, nach langen Jahrhunderten Funkstille, Lust auf einen Stadtschreiber.

Denn neugierig, offen und abenteuerliebend muss so ein Stadtschreiber schon sein. Schließlich soll er deine Geschichten aufspüren, auffangen, aufschreiben, literarische Begegnungen mit deinen Bewohnern eröffnen, den Austausch anregen, das Schreiben zum Sprudeln bringen. Ja, früher waren Rechtsgelehrte oder anderweitig Penible deine Stadtschreiber. Während sie eher die Geschichtsschreiber waren, sind Stadtschreiber von heute Geschichtenschreiber. Für Ersteres zählt Korrektheit, Unbestechlichkeit.

Für Letzteres sind Kreativität und auch eine gewisse Realitätsflexibilität von Vorteil.

Schriftstellerin also. 

Aber nicht irgendeine Schriftstellerin sollte es für dich sein, eine gewöhnliche, schnöde, herkömmliche, nein, du wolltest ausdrücklich eine, die sich der Kinder- und Jugendliteratur verschrieben hat.

Was ziemlich ungewöhnlich ist. Stipendien- und Stadtschreiberprogramme gibt es ja ein paar. Nicht übermäßig viele, aber doch ein paar. Für Kinder- und Jugendliteratur allerdings gibt es genau EIN Stadtschreiberprogramm im deutschsprachigen Raum. Nämlich in Mannheim.

Verzeihung. Gab es.

Denn jetzt gibt es ja ein zweites: hier bei dir.

In Nördlingen.

Und das ist nichts weniger als eine kleine Sensation.

Denn Kinder- und Jugendliteratur zählt bei so vielen Stipendien, Ausschreibungen und Wettbewerben eben nicht als „richtige“ Literatur. Unter „richtiger“ Literatur wird im Allgemeinen Erwachsenenliteratur verstanden. Punkt, Ende, aus.

Diese Wertung halte ich, halten die Initiatoren deines Stadtschreiberprogramms für grundfalsch.

Erstens, weil es nicht das Genre ist, das einen Text automatisch zu Literatur werden lässt. Im Erwachsenenbereich gibt es genauso wie im Kinder- und Jugendbuchbereich grandiose Bücher – und Schrottbücher. Die Gaußsche Verteilerkurve dürfte sich ziemlich ähneln.  

Zweitens, weil es gerade in der Kinder- und Jugendliteratur so wichtig ist, gute Stoffe, intelligente Plots, liebevolle Illustrationen und eine frische Sprache zu fördern. Schließlich achten wir bei unserem Nachwuchs auf eine möglichst gesunde, nährstoff- und abwechslungsreiche Ernährung. Da sollten wir auch beim Lesefutter nicht auf Junkfood zurückgreifen müssen.

Weil die Kinder- und Jugendbuchbranche aber extrem produktiv bis aktionistisch ist (jährlich werden ca. 9000 Neuerscheinungen auf den Markt „gestülpt“, die möglichst funktionieren müssen, da leisten sich nur wenige Verlage Experimente), ist es umso wichtiger, ihren Autor:innen Raum zur Stoffentfaltung, zum Entwickeln, zum Schreiben zu geben. Wobei „Raum“ nicht nur räumlich zu verstehen ist, sondern zeitlich, finanziell und geistig.

Du, Nördlingen, stellst mir diesen Raum die nächsten drei Monate zur Verfügung.

Dafür bin ich dir dankbar.

Ich werde mich revanchieren mit Geschichten, Workshops, Lesungen – und hoffentlich mit vielen Begegnungen mit deinen Einwohner:innen.

Ich freue mich darauf, dich und deine Menschen kennenzulernen.