War ich je nicht hier?

Dinge mit Gesicht: das Reimlinger Tor reißt seit Jahrhunderten den Schlund auf

Wahnsinn, ist diese erste Woche schnell verflogen.

Und gleichzeitig: ist es erst eine Woche her, seit mich Herr Oberbürgermeister Wittner, Ralf Lehmann, Rudi Scherer und Herr Dr. Sponsel am Bahnhof abgeholt haben? Ich kann es nicht glauben. Ich fühle mich schon so HIER.

Richtig gut aufgestellt: Stadtarchivar Dr. Wilfried Sponsel, Stadtschreiberin Stepha Quitterer, Initiator Ralf Lehmann, Oberbürgermeister David Wittner, Kulturbauftragter Rudi Scherer

Vielleicht ist es so, weil die Wohnung, die mir von Martin Stumpf und dem Lions Club Nördlingen zur Verfügung gestellt wird (danke!!), so hübsch, so licht, so ideal gelegen ist: ich kann dem Wochenmarkt beim Aufbau zusehen – habe gelernt, dass man in Nördlingen schon um 6:30 Uhr seine Blumen einkauft, das lässt mich tatsächlich schwer beeindruckt am Fenster stehen und staunen (noch nicht angezogen) – ich sehe Nördlingen beim Schlendern zu, beim Eis-auf-der-Bank-Essen und beim Regenschirm-Spannen. Ich sehe auch, auf der anderen Seite der Wohnung, die beiden Störche zur Froschjagd fliegen, über den Wiesen kreisen und schwer beladen wieder zurückkommen. Ich lebe direkt am Storchschen Arbeitsweg! (Meine Faszination für Störche lässt nicht nur auf eine Sozialisierung mit den Hauffschen Märchen, sondern wohl auch auf mein Alter schließen: ich bin noch aufgewachsen mit Störche-sind-selten und Aaaahs und Ooooohs und plattgedrückten Nasen an Autofenstern, wenn wir durch Gegenden kamen, in denen echte Storchennester auf Schornsteinen hockten. Der Storch lässt sich inzwischen ja wieder häufiger blicken, zum Glück!)

Vielleicht ist es auch so, weil sich alle bemühen, dass mir an nichts mangelt: Rudi Scherer hat Schreibtischlampen gestiftet und ein Fahrrad organisiert, Martin Stumpf bringt praktisch täglich Neues: einen Spiegelschrank fürs Bad, Vorhänge – heute kam das Internet. Ich kann gar nicht so schnell den Mund aufmachen, schon steht die Lösung parat. Ich bin schlau genug, mich nicht daran zu gewöhnen, aber ich finde es wirklich angenehm, das kann ich nicht anders sagen!

Ohne Moos nix los!

Vielleicht ist es auch so, weil ich mich schon ein bisschen verknallt habe. In diese Stadt. In seine Winkel, Gassen, Stadtmauerfluchten, Ziegelrotdächer (manche bemoost), Holzbalken, eingeritzte Jahreszahlen und, ganz besonders: in den Türmerruf. Ich plane bereits mein Ins-Bett-Gehen so, dass mir das letzte „So, Gsell, so“ gute Nacht sagt. Es rührt mich. Als würde vorm Schlafen noch einmal Bande geknüpft, vom Nabel in die Vergangenheit und bis hierher ins Jetzt.

Und vielleicht fühle ich mich auch schon so HIER, weil ich von so vielen lieben, tollen, interessierten und interessanten Menschen zum Spaziergang eingeladen worden und mit ihnen auch schon spaziert bin. Dazu ab morgen mehr. Heute erst nur die Dankbarkeit und der Genuss. Danke, Nördlingen, dass du mich mit so offenen Armen willkommen heißt!

Ich freue mich auf alle weiteren Begegnungen. Mails gerne an: stadtschreiberin@noerdlingen.de

Aber jetzt muss ich ins Bett. Der Türmer ruft gleich zum letzten Mal. Für heute zumindest.

Hallo Nördlingen. Darf ich mich vorstellen?

Ich bin deine Stadtschreiberin.

Stephanie Quitterer vor türkisfarbener Wand

Jetzt schaust du.

Stadtschreiberin? Was ist das, was soll das sein?

Ja, früher, du erinnerst dich dunkel, hattest du schon mal Stadtschreiber. Damals. Ungefähr zur Zeit der Hexenverfolgung. Damals waren es gelehrte Herren, die deine Chroniken schrieben – inzwischen (es ist viel passiert) kann, du siehst es, auf so einem Posten auch ein weibliches Wesen sitzen. Gelehrt bin ich zwar auch, aber das wäre nicht das erste Adjektiv, das mir zu mir einfallen würde. „Neugierig“ wäre da schon viel früher zu nennen, oder „offen“ und „abenteuerliebend“. Diese Adjektive sind es wohl eher, die mich in deine Arme getrieben haben, als du von deinem Daniel herunter und in alle Lande verkündet hast, du hättest mal wieder, nach langen Jahrhunderten Funkstille, Lust auf einen Stadtschreiber.

Denn neugierig, offen und abenteuerliebend muss so ein Stadtschreiber schon sein. Schließlich soll er deine Geschichten aufspüren, auffangen, aufschreiben, literarische Begegnungen mit deinen Bewohnern eröffnen, den Austausch anregen, das Schreiben zum Sprudeln bringen. Ja, früher waren Rechtsgelehrte oder anderweitig Penible deine Stadtschreiber. Während sie eher die Geschichtsschreiber waren, sind Stadtschreiber von heute Geschichtenschreiber. Für Ersteres zählt Korrektheit, Unbestechlichkeit.

Für Letzteres sind Kreativität und auch eine gewisse Realitätsflexibilität von Vorteil.

Schriftstellerin also. 

Aber nicht irgendeine Schriftstellerin sollte es für dich sein, eine gewöhnliche, schnöde, herkömmliche, nein, du wolltest ausdrücklich eine, die sich der Kinder- und Jugendliteratur verschrieben hat.

Was ziemlich ungewöhnlich ist. Stipendien- und Stadtschreiberprogramme gibt es ja ein paar. Nicht übermäßig viele, aber doch ein paar. Für Kinder- und Jugendliteratur allerdings gibt es genau EIN Stadtschreiberprogramm im deutschsprachigen Raum. Nämlich in Mannheim.

Verzeihung. Gab es.

Denn jetzt gibt es ja ein zweites: hier bei dir.

In Nördlingen.

Und das ist nichts weniger als eine kleine Sensation.

Denn Kinder- und Jugendliteratur zählt bei so vielen Stipendien, Ausschreibungen und Wettbewerben eben nicht als „richtige“ Literatur. Unter „richtiger“ Literatur wird im Allgemeinen Erwachsenenliteratur verstanden. Punkt, Ende, aus.

Diese Wertung halte ich, halten die Initiatoren deines Stadtschreiberprogramms für grundfalsch.

Erstens, weil es nicht das Genre ist, das einen Text automatisch zu Literatur werden lässt. Im Erwachsenenbereich gibt es genauso wie im Kinder- und Jugendbuchbereich grandiose Bücher – und Schrottbücher. Die Gaußsche Verteilerkurve dürfte sich ziemlich ähneln.  

Zweitens, weil es gerade in der Kinder- und Jugendliteratur so wichtig ist, gute Stoffe, intelligente Plots, liebevolle Illustrationen und eine frische Sprache zu fördern. Schließlich achten wir bei unserem Nachwuchs auf eine möglichst gesunde, nährstoff- und abwechslungsreiche Ernährung. Da sollten wir auch beim Lesefutter nicht auf Junkfood zurückgreifen müssen.

Weil die Kinder- und Jugendbuchbranche aber extrem produktiv bis aktionistisch ist (jährlich werden ca. 9000 Neuerscheinungen auf den Markt „gestülpt“, die möglichst funktionieren müssen, da leisten sich nur wenige Verlage Experimente), ist es umso wichtiger, ihren Autor:innen Raum zur Stoffentfaltung, zum Entwickeln, zum Schreiben zu geben. Wobei „Raum“ nicht nur räumlich zu verstehen ist, sondern zeitlich, finanziell und geistig.

Du, Nördlingen, stellst mir diesen Raum die nächsten drei Monate zur Verfügung.

Dafür bin ich dir dankbar.

Ich werde mich revanchieren mit Geschichten, Workshops, Lesungen – und hoffentlich mit vielen Begegnungen mit deinen Einwohner:innen.

Ich freue mich darauf, dich und deine Menschen kennenzulernen.